Aristoteles und die Nachhaltigkeit

Nikomachische Ethik enthält neben dem Prinzip gegenstandsbezogener Genauigkeit weitere relevante Denkanstöße mit Blick auf die aktuelle Diskussion

Die Selbstverständlichkeit, mit der die Begriffe Nachhaltigkeit und nachhaltiges Investieren neuerdings gebraucht werden, wird nur noch überboten von den Problemen, die sie aufwerfen. Erstens, so heißt es immer wieder, seien die Begriffe nicht klar definiert. Zweitens sei die Methodik beliebig. Drittens fehle ein vernünftiger regulatorischer Rahmen. Damit einhergehend wird gelegentlich auch das Gegenteil bemängelt: Die Vorgaben seien deutlich zu detailliert.

Alle diese Kritikpunkte sind nachvollziehbar, denn für die einen ist beispielsweise Elektromobilität nachhaltig, da sie kompatibel zum Ziel der Klimaneutralität ist. Für die anderen ist diese Bewertung sehr fraglich, da die seltenen Erden für die Batterieherstellung knapp und die sozialen Bedingungen ihres Abbaus kritisch sind. Die einen fordern detaillierte Regeln und Verbote, um den Wandel zu einer nachhaltigen Ökonomie in Gang zu bringen, die anderen meinen, dies sei nur durch breite Leitplanken und geeignete Anreize zu schaffen. Einigkeit besteht in Sachen Nachhaltigkeit so gesehen vor allem im Dissens.

Aristoteles (384-322 v. Chr.) gehört zu den bekanntesten und einflussreichsten Philosophen und Naturforschern der Geschichte.

Alter Denkwerkzeugkoffer

Ein Werkzeug, das diesen Dissens besser zu verstehen hilft, liegt in einem mehr als 2300 Jahre alten Denkwerkzeugkoffer: der Nikomachischen Ethik von Aristoteles. Es handelt sich um das Prinzip der gegenstandsbezogenen Genauigkeit. Soll heißen: Die Genauigkeit der Beobachtung oder der Werkzeuge hängt vom Gegenstand ab. Ein Goldschmied arbeitet mit einer anderen Akkuratesse als ein Hufschmied. Und das ist richtig und sinnvoll. Denn mit einem kleinen Schlägel wird man niemals ein vernünftiges Hufeisen hinbekommen  und mit einem groben Hammer keinen goldenen Ring.

Die Kritik, der Begriff der Nachhaltigkeit sei unklar, kollidiert mit diesem Prinzip gegenstandsbezogener Genauigkeit und ist eine Folge falscher Erwartungen: Dass der Nachhaltigkeitsbegriff nicht eindeutig und letztgültig definiert werden kann, liegt in der Natur der Sache selbst begründet. Denn die Frage, welche Geschäftsaktivitäten nachhaltig sind und welche nicht, entscheidet sich erstens in der Zukunft und zweitens vornehmlich in der Praxis. Wer gerade ganz praktisch am Smog erstickt, bewertet die ungelösten Fragen der Elektromobilität anders als ein die frische Luft genießender Landbewohner; und ob oder wie es gelingen wird, diese Fragen zu lösen, wird sich erst zukünftig entscheiden lassen.

Nachhaltigkeit muss daher immer wieder neu und flexibel interpretiert werden. Gerade deswegen sind die Verfahren des aktiven Assetmanagements mit ihren Entscheidungen auf der Basis detaillierter Einzelanalysen von erfahrenen Experten den passiven und quantitativen Ansätzen in dieser Hinsicht klar überlegen: Sie sind beweglich und können sich wenn nötig anpassen, um so offen für den Einzelfall und das Neue zu sein.

Auch der zweite erhobene Vorwurf, Nachhaltigkeit sei beliebig, ist Folge eines fundamentalen Missverständnisses. Dass der Begriff Nachhaltigkeit interpretatorischen Spielraum zulässt, bedeutet nicht, dass er beliebig ist. Dieser Spielraum ist vielmehr eine notwendige Folge des enormen Bedeutungsumfangs: Die Faktoren Umwelt, Soziales und Unternehmensführung (engl.: ESG - Environment, Social, Governance) lassen sich aus guten Gründen unterschiedlich gewichten. Außerdem lassen diese Begriffsdimensionen durchaus plausibel verschiedene Schlussfolgerungen zu.

Genau deshalb erfordert nachhaltiges Investieren auch eine fundamentale und mehrdimensionale Analyse durch erfahrene Experten, die im kontinuierlichen Dialog um überzeugende Interpretationen ringen. Genau dies bedeutet ESG-Integration, in die wir beständig investieren, um so Titel für unser Investmentuniversum zu erschließen, die uns sowohl fundamental als auch nachhaltig überzeugen und so zur stabilen Wertentwicklung der Vermögen unserer Kunden beitragen.

Wohin führt die Diagnose?

Die Kritik an gleichzeitig zu laxen und kleinteiligen regulatorischen Vorgaben für die Finanzbranche mutet in der Tat paradox an. Richtig ist: Die 400 Seiten Taxonomie der Europäischen Union (EU) lassen sich kaum als kompakt bezeichnen. Gleichzeitig trifft zu, dass die Politik noch keine hinreichenden Bedingungen einer nachhaltigen Realwirtschaft definiert hat. Und es stimmt: Der Masterplan für eine nachhaltige Wirtschaft in Deutschland, Europa und der Welt existiert noch nicht. Aber wohin führt diese Diagnose?

Aus der Kritik wird oft abgeleitet, dass nichts getan werden muss, bis die Rahmenbedingungen stehen. Wer das tut, läuft Gefahr, vom Wandel überrollt zu werden. Denn es gibt sehr viel zu tun, mehr noch: Es muss sehr viel getan werden, weit mehr als in den vergangenen Jahren. Es bleibt keine Zeit, auf die Regulatoren zu warten, wenn sich die Finanzbranche nicht ihrer eigenen Geschäftsgrundlage berauben will. Die besteht nämlich aus einer funktionierenden Wirtschaft in einer möglichst friedlichen und stabilen Welt.

Assetmanager prägen die Wirtschaft entscheidend, denn sie stellen die Finanzierung von Geschäftsmodellen zur Verfügung. Die Entscheidung für eine grünere Wirtschaft, für weniger Emissionen und die Chance, dem Klimawandel Einhalt zu gebieten, wird nicht nur in Berlin und Brüssel getroffen, sondern auch am Handelstisch. Deshalb führen die Mitarbeiter des Portfoliomanagements von Union Investment pro Jahr rund 4000 Gespräche mit Unternehmensvertretern, davon über 500 dezidiert zu Nachhaltigkeitsthemen. Hier geht es im Kern um die Zukunftsfähigkeit der Konzerne, um Transparenz und immer stärker um Fragen des Klimaschutzes, weil die globale Erwärmung massive Auswirkungen auf Managemententscheidungen hat.

Glaubwürdig agieren

Wichtig ist dabei: Wirksames Engagement ist immer langfristig und Teil unserer aktiven Eigentümerschaft
als Aktionäre. Es darf nicht halbherzig vorgetragen werden, sondern muss überzeugend und glaubwürdig sein. Deshalb gehören Unternehmen, die Forderungen dauerhaft ignorieren und keine Verbesserungen in Sachen Nachhaltigkeit erreichen, nicht in das Portfolio eines nachhaltigen Assetmanagers.

Unser Divestment beim brasilianischen Minenbetreiber Vale nach dem verheerenden Dammbruch in Brumadinho ist dafür ein aktuelles Beispiel. Es war die zwingende Reaktion auf den Dialog mit dem Management, bei dem uns klar wurde, dass Vale noch keine Antwort hat, wie man künftige Unglücke dieser Art vermeiden will und welche Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden können.

Neben diesen Ausschlüssen auf Einzelfallbasis unterstützen auch allgemeine Ausschlüsse die Glaubwürdigkeit unseres Nachhaltigkeitsansatzes. So tätigt Union Investment keine Investitionen in Unternehmen, die an der Herstellung von ABC-Waffen, Landminen und Streubomben oder der Förderung von Kohle beteiligt sind. Das passiert beispielsweise auch bei gravierenden Verstößen gegen die Prinzipien des UN Global Compact, wenn durch Engagement-Dialoge mit Emittenten kein positives Ergebnis erreicht werden kann.

Kehren wir noch einmal zu Aristoteles und seiner Nikomachischen Ethik zurück. Sie enthält neben dem Prinzip gegenstandsbezogener Genauigkeit weitere relevante Denkanstöße mit Blick auf die aktuelle Nachhaltigkeitsdiskussion. So zitiert Aristoteles das geflügelte Wort ,,Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer‘‘
aus einer Fabel des Äsop, um zu erläutern, wie man einen guten Charakter herausbildet: durch beständige Gewöhnung. Großzügig ist man beispielsweise nicht durch ein einziges Geschenk, sondern vielmehr durch die beständige Haltung, gerne zu geben. Dies gilt auch in Sachen Nachhaltigkeit: Seit der Auflage des ersten nachhaltigen Fonds durch die Union Investment im Jahr 1990 sind viele Sommer vergangen. Unsere Haltung ist die gleiche geblieben: Nachhaltigkeit war und ist Teil unseres genossenschaftlichen Selbstverständnisses und lebt vom aktiven und kontinuierlichen Engagement.

 

Henrik Pontzen,
Leiter ESG bei Union Investment

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